PRE-RACE
Ich wälze mich zum hundertsten Mal von links nach rechts. Geschlafen habe ich kaum. Regentropfen prasseln seit Stunden verheißungsvoll auf das Wohnmobildach. Kein Tag, um einen Hund vor die Tür zu scheuchen, geschweige denn eine Langdistanz zu absolvieren. Ich seufze und stehe auf. Auch auf dem Stellplatz nebenan klingelt der Wecker. Geteiltes Leid ist halbes Leid.
Nach dem Frühstück schlüpfe ich in einen ärmellosen Einteiler, den ich nach dem Schwimmen wechseln möchte, und ziehe mir den Neoprenanzug über die Hüften. Der Start wird für mich aufgrund einer geringeren Teilnehmerzahl früher sein als in Klagenfurt. Wir verstauen unser Gepäck transportsicher, wecken Mathilda und machen uns auf die 10-minütige Fahrt nach Thun. Dort verabschiede ich mich von meinen beiden. Je nach Wetterlage sehen wir uns erst zum Ende der Laufstrecke wieder. In der Wechselzone herrscht eine elektrisierende Stimmung aus Nervosität, Vorfreude und Anspannung, die mich wie jedes Mal beruhigt. Ich checke, ob Wechselbeutel und Rad die nasse Nacht gut überstanden habe, schmiere Hals und Gesicht mit reichlich Vaseline ein, um mich vor der Kälte zu schützen, und gebe meine restliche Kleidung ab.
Auf dem Weg zum Schwimmstart mache ich einen Pitstopp und schlüpfe anschließend in die Neoprensocken, die mir Thomas nach einer Mail vom Veranstalter noch kurzfristig vor zwei Tagen besorgen konnte. Der Moderator bittet alle Athleten in die Startblöcke, um kurz darauf zu informieren, dass sich der Start um 10 Minuten verzögert. Ich bin verunsichert und versuche durch die Neoprenanzüge einen Blick auf den See zu erhaschen, wo lediglich tief hängende Regenwolken die Sicht erschweren. Was soll‘s, heute muss ich es nehmen, wie es kommt.
SWIM
Alle Athleten werden aufgefordert, die Arme über die Köpfe zu strecken und im Takt zu klatschen. Ein Gänsehaut-Moment. Während des Rolling Starts werden alle 3 Sekunden 5 Starter ins Rennen geschickt. So stehe ich nur 8 Minuten nach dem Startschuss unter dem Startbogen. Es geht los! Allerdings die ersten 50m durchs flache Wasser gehend. Als ich mich zum Kraulen ins kalte Wasser werfe, reagiert mein Körper mit einem Schock. Ich kann nicht atmen, habe Panik, sobald ich meinen Kopf in das eiskalte Wasser tauche. Wie ein ertrinkender Hund paddle ich hilflos im Wasser und strecke meinen Kopf über Wasser. Ich muss Brustschwimmen, um erstmal meine Atmung in Griff zu kriegen. Dass ich ständig von anderen Schwimmern überschwommen und unter Wasser gedrückt werde, ist nicht hilfreich. Ich habe keine Ahnung, wie ich die Strecke absolvieren soll und bin verzweifelt. Die ersten 3 Bojen hangle ich mich als Korken-Schwimmerin voran. Nur langsam legt sich die Panik und ich versuche zumindest in 2er-Atmung zu kraulen. Kraftraubend und langsam.
Ständig schlucke ich aufgrund des Wellengangs und der anderen Schwimmer Wasser. Nach einer weiteren Boje -ich habe weder Orientierung noch Zeitgefühl- werde ich von anderen Athleten mehrfach auf eine Schwimmerin gedrückt. Das tut mir Leid, aber die Nähe der sehr ruhigen, routinierten Schwimmerin beruhigt mich. Ich halte mich schräg hinter ihr und kann mir so den anstrengenden Orientierungsblick sparen. Diese Position verteidige ich gegen jeden, der mich wieder überschwimmen will. Endlos lange halte ich mich in ihrer Nähe, merke, wie mir die Kälte in Mark und Bein übergeht. Meine Hände sind mittlerweile so kalt, dass mir fast mein Ehering vom Finger rutscht. Irgendwann kommt der Hafen in Sicht. Unter uns tauchen immer wieder Pflanzen auf. Das Wasser hinterlässt einen Benzin-Geschmack in meinem Mund. Ich ekele mich und beschließe, die Position hinter meiner Retterin zu verlassen und einen Zahn zuzulegen, um endlich diesen fiesen See zu verlassen.
BIKE
Erst als ich aus dem See gezogen werde, merke ich erst, dass es wie aus Kübeln schüttet. Die Helfer in der Wechselzone sind sehr besorgt, fragen nach dem Wohlbefinden und reichen warme Bouillon. Als ich mich umblicke, wird der Grund der Sorge klar: viele Athleten zittern wie Espenlaub, manche werden mit Sicherheitsdecken versorgt. Ein Hoch auf mein „Biopren“, das ich im Vergleich zu vielen Langdistanz-Athleten habe! Ich laufe zu meinem Wechselbeutel. Der Boden des Sportplatzes, auf dem der Wechselbereich aufgebaut ist, schmatzt unter meinen Füßen. Beim Wechsel lasse ich mir Zeit, um trockene Kleidung anzuziehen. Ich bin froh, dass ich Kleidung für alle Eventualitäten eingepackt hab und schlüpfe in alles: Rennanzug, Socken, Schuhe mit Windstopper, Ärmlinge, Weste, Regenjacke, Stirnband, Handschuhe. Heute zählen nicht die Sekunden, heute zählt Durchkommen. 600 von 1.800 Athleten werden heute nicht das Ziel erreichen.
Auf den ersten Metern bleibt das Glücksgefühl, das ich üblicherweise bei dem Wechsel auf das Rad habe, aus. Innerhalb von 3 Kurbeldrehungen sind meine Füße komplett durchnässt und eiskalt, was sich in den kommenden 6 Stunden nicht ändern wird. Die erste Stunde prüfe ich mehrfach, ob noch Granulat aus der Wechselzone zwischen Reifen und Rahmen klemmt, weil ich das Gefühl habe, auf der Stelle zu treten (auf der zweiten Runde werde ich feststellen: es sind Gegenwind und Höhenmeter). Die Strecke ist anspruchsvoll, doch die meisten fahren aufgrund der Bedingungen ebenso defensiv und vorsichtig. Nach bereits 45km beginnt mein Nacken zu schmerzen. Ich hatte in den vergangenen Tagen Probleme mit einer Verspannung, die der Aero-Haltung Tribut zollt. Nach 2 Stunden schäl ich mich aus Regenjacke und Handschuhen. Laut Regenvorhersage bleibt es nun trocken. Die Straßen füllen sich mit Zuschauern. Gegen Ende der ersten Radrunde geht es mit Rückenwind Richtung Thun. Während eines Überholvorgangs entdecke ich meine beiden am Straßenrand.
Auf der 2. Runde zieht sich das Feld deutlich auseinander und ich kann nach meinem Gusto treten. Ohne Regen ist die Strecke durch das Gantrisch beeindruckend, auch wenn sich langsam, aber sicher die 2.200 hm in meinen Schenkeln bemerkbar machen. Ich verfolge die Strecke auf dem Höhenprofil, das ich mir an den Lenker geklebt habe, und bin durchaus erleichtert, als ich den höchsten Punkt in Pötsch bei KM 150 erreiche.
RUN
In der Wechselzone schlüpfe ich in trockene Socken und Laufschuhe. Ein herrliches Gefühl, als sich die Füße auf den ersten Metern langsam wieder aufwärmen.
Ich beginne den Marathon bewusst in einer lockeren Pace. Dass ich jeden Meter dieser ersten Runde noch zwei Mal laufen muss, demotiviert mich. Ich versuche mich auf die Strecke zu konzentrieren, um die negativen Gedanken loszuwerden. Und wenn diese Laufstrecke in Thun etwas bietet, dann Abwechslung: Straße, Seepromenade, Park, Hafen, Brücken, Wendestrecken, Altstadt, eine Runde durch ein Stadion,… Ich verliere komplett die Orientierung, habe aber ja noch 2 Runden Zeit, um sie wiederzugewinnen. An den Verpflegestationen halte ich mich an Bouillon und Salzstangen, um meine Verdauung nicht zu belasten. Nach der 1. Runde ohne Schwierigkeiten freue ich mich wie eine Schneekönigin: in Klagenfurt begann zu diesem Zeitpunkt das Elend. Mittlerweile führt die salzige Bouillon jedoch dazu, dass ich nach Wasser lechze. Ich nehme hin und wieder Wasser und Cola zu mir, stelle jedoch nach 22km beunruhigt fest, dass mein Magen nach jeder Verpflegung krampft. 100m nach der letzten Verpflegungsstelle der 2. Runde schaffe ich es nicht anzulaufen, muss mich immer wieder krümmen. Nach und nach holen mich alle Läuferinnen ein, die ich bereits eingesammelt hatte. Schade Schokolade. Bin ich bereits 2km gegangen?! Ich kann mich nicht aufraffen.
Ich bin verzweifelt: in der Vorbereitung habe ich verschiedenste Verpflegungen getestet, Erfahrungen mit anderen Sportlern ausgetauscht, meine Ernährung in den letzten Wochen bezüglich Verträglichkeit überwacht. Während des Wettkampfes habe ich alles getan, um bloß nicht die Verdauung zu belasten: ich hab lediglich Wasser, Riegel und Bananen zu mir genommen und penibel darauf geachtet, nicht zu überpacen. Ist das für immer mein Painpoint, Langdistanz womöglich nicht das richtige? Wo ich gerade lange Strecken so liebe… Ich verlier mich komplett in Selbstmitleid, da sehe ich Thomas Jacke am Straßenrand aufblitzen. Ich berichte über meinen Zustand. Hatte er sich schon gedacht, verfolgt er ja meine Splits. Wie schön wäre es, könnte ich mich jetzt nach einer ausgiebigen Dusche ins gemütliche Wohnmobil legen. Als ich keine Anstalten mache weiterzulaufen, fordert er mich auf. Okay, ich werd an der nächsten VP austreten, alles loswerden, was mich quält, und dann vollends durchziehen. Ich gebe der sichtlich gelangweilten Mathilda einen Kuss. Tatsächlich läuft es wieder gute 5km, bis mich Krämpfe erneut zur Gehpause zwingen. An den VPs kennen mich die Bouillon-Helfer schon und sprechen mir ebenfalls gut zu. Ich gönne mir einen weiteren Dixie-Stopp und beschließe, die restlichen Kilometer -komme, was wolle- durchzulaufen. Der Gedanke, dass Mathilda im Ziel wartet, motiviert mich. An der Strecke ist es mittlerweile ruhiger geworden.
Ich nehme wieder Tempo auf, überhole ein paar Läufer. Ein letztes Mal mal noch rechts, links, rechts, am KK-Thun vorbei und da ist die Kurve in den Zielbereich! Während ich den ganzen Tag auf mich fokussiert war, klatsche ich jetzt mit den Zuschauern ab, mach den Flieger, reiss die Arme in die Höhe, schrei vor Freude, mache unter dem Zielbogen einen Luftsprung und werde vom Moderator begrüßt: „Silvia aus Deutschland hat letztes Jahr ihren ersten Ironman gemacht und gesagt, sie macht es nie wieder. Heute ist sie hier! Nächstes Jahr dann wieder hier, Silvia?“ Ich lache, zwinker ihm zu und lass das besser vorerst unkommentiert.